Perfektion – Fluch, Segen oder beides?

Unter Perfektion versteht man im Allgemeinen einen Zustand der Vollkommenheit, dass jemand oder etwas sehr hohe Erwartungen erfüllt bzw. übertrifft. Es existiert „keine Luft nach oben“, weitere Verbesserungen sind nicht möglich.

Ist es nicht wunderbar, wenn Menschen, Produkte und Arbeitsergebnisse diese Definition erfüllen, einfach perfekt sind – rund, ohne Kanten und Makel, wie aus dem Lehrbuch? Ja, nein, vielleicht – was sagen Sie??

Ich sage JAIN mit Tendenz zum Nein! Denn es gibt Situationen, in denen Perfektion und Akkuratesse ihre Berechtigung haben. So fände ich es zum Beispiel toll, wenn der Chirurg, welcher mich eines Tages vielleicht einmal operieren wird, Perfektion anstrebt – wenn er sich die größte Mühe gibt, das vereinbarte OP-Ergebnis auch zu erreichen. Und wenn wir einmal dabei sind, hätte ich gern auch einen Anästhesisten, welcher Wert darauf legt, seine Arbeit akkurat zu verrichten ;-).

In vielen anderen Situationen empfinde ich das Streben nach Perfektion jedoch eher als hinderlich, belastend und kraftraubend. Denn vollkommene Ergebnisse kosten in der Regel mehr Zeit, Nerven und Energie als durchschnittliche. Vor allem dann, wenn perfekte Resultate überhaupt nicht nötig und gefordert waren, sondern aus einer sich selbst auferlegten Verpflichtung heraus entstanden sind. So ist es zum Beispiel möglich, in gebügelter Bettwäsche zu schlafen – ebenso besteht aber auch die Option, auf das mühsame manuelle Glätten zu verzichten, da am nächsten Morgen sowieso mit erneuten Falten zu rechnen ist. Welche Variante mehr Zeit und Energie kostet, muss ich wahrscheinlich nicht extra erwähnen ;-).

In meiner täglichen Arbeit begegnet mir die Auseinandersetzung mit dem Streben nach Perfektion so häufig wie der Postbote: regelmäßig und in ähnlichem Gewand. Immer wieder ist es der Versuch, perfekt sein oder Perfektes leisten zu wollen, der Menschen stresst, sie krank macht, Konflikte verursacht und Beziehungen belastet. In der Psychologie hat sich deshalb der Begriff „Perfektionismus“ etabliert. Er beschreibt das übertriebene Streben nach Vollkommenheit und  Fehlerfreiheit. Menschen, die diese Ziele verfolgen, werden allgemeinhin als „Perfektionisten“ bezeichnet. Sie sind von Arbeitgebern gern gesehen, da sie verlässlich herausragende Ergebnisse abliefern. Sie können über ihren hohen Selbstanspruch zu Höchstleistungen angespornt werden. Gleichzeitig wird aber oft kritisiert, dass sie zu viel Zeit benötigen, um diese Resultate zu erreichen. Da sie ihre Leistung immer wieder überprüfen und verbessern, kommt es häufig zu Überstunden, Heimarbeit und dem Gefühl der Überlastung. Auch Spannungen im Team sind an der Tagesordnung – vor allem deshalb, weil Kollegen mit geringeren Ansprüchen das Verhalten der Perfektionisten nicht nachvollziehen können.

Aber auch im Privatbereich kann das Streben nach Vollkommenheit große Schwierigkeiten verursachen. Denn ein waschechter Perfektionist zeichnet sich nicht nur durch einen extrem hohen Selbstanspruch aus. Meist hat er auch an sein Umfeld sehr hohe Erwartungen und ist enttäuscht oder verärgert, wenn andere diese nicht übernehmen wollen oder schlichtweg nicht erfüllen können.  Dann sind Konflikte und Reibereien vorprogrammiert.

Aber wie viel Vollkommenheit ist nun erstrebenswert? Wann ist Perfektion angebracht und wann nicht? Die wirkliche Kunst besteht darin, von Situation zu Situation neu zu entscheiden. Sollten Sie also eines Tages in die Verlegenheit kommen, eine Operation am offenen Herzen durchführen zu müssen, dann rate ich dringend zur Perfektion. Oder auch, wenn Sie beispielsweise einen Beruf ausüben, in dem Produkte, welche Sie produzieren, zu einhundert Prozent kompatibel sein müssen, um technisch einwandfrei zu funktionieren. Aber für die meisten anderen Situationen sehe ich es so: Wie perfekt etwas oder jemand ist, wird immer dadurch entschieden, welcher Anspruch und welche Erwartung im Vorfeld festgelegt wurden. Wenn es also keine konkreten Vorgaben (z.B. vom Arbeitgeber) gibt, ist es Ihre Entscheidung, wie viel Zeit und Kraft Sie investieren bzw. mit welchem Ergebnis Sie zufrieden sind. Ich rate hier eindeutig zur Bescheidenheit und dazu, dass Sie öfter „ein Auge zudrücken“. Denn es ist unumstritten, dass das Streben nach Perfektion langfristig unglücklich und unzufrieden machen kann. Das liegt vor allem daran, dass es schlichtweg nicht möglich ist, alles in ausgezeichneter Qualität zu absolvieren. Wenn Menschen aber dennoch das Ziel verfolgen, rundum perfekt sein zu wollen, dann kann das fast nur mit Frustration und Erschöpfung enden. Auch wissenschaftlich ist vielfach und eindeutig erwiesen, dass Menschen mit ausgeprägten perfektionistischen Zügen einer erhöhten Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sind, eine psychische Erkrankung zu erleiden.

Und überhaupt sind es doch erst die Ecken und Kanten, welche Menschen interessant und unterscheidbar werden lassen. Seien Sie also mit Leidenschaft „unvollkommen“ – dann tun Sie etwas Wertvolles für Ihre Gesundheit!

Herzlichst Mareike Fährmann