Wahrnehmung und Wirklichkeitskonstruktion – Jeder hat seine eigene Realität!

Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie es dazu kommt:

  • dass sich Menschen, die theoretisch dieselbe Sprache sprechen, praktisch so häufig missverstehen?
  • dass andere Menschen Verhaltensweisen zeigen, die auf uns absurd, unnormal oder gar unverschämt wirken und sie trotzdem absolut uneinsichtig sind?
  • dass wir unser eigenes Verhalten als schlüssig, nachvollziehbar und normal empfinden, während andere uns dafür verurteilen, anklagen oder ablehnen?

In zahlreichen meiner Beratungen kommen diese und ähnliche Fragen „auf den Tisch“. Meist entstehen sie bei der Bearbeitung von Konflikten. Da ich die Erfahrung gemacht habe, dass Klarheit über die Entstehung dieser Missverständnisse den ersten Schritt zur Konfliktklärung darstellt, möchte ich dieses Thema heute aufgreifen.

Wissenschaftlich betrachtet fällt diese Thematik unter die Oberbegriffe „Wahrnehmung“ und „Lernen“ – beides klassische Aspekte der Psychologie und schon sehr lange beliebte Spielwiesen von unzähligen Forschern.

Wahrnehmung, was ist das?

Unter Wahrnehmung versteht man – mal ganz allgemein ausgedrückt – die Art, wie ein Mensch Reize und Informationen, die in jeder Millisekunde auf ihn einströmen, aufnimmt und verarbeitet. Hierbei ist es grundsätzlich erst einmal egal, über welchen Sinneskanal (Augen, Ohren, Nase, Haut) die Botschaften ankommen. Entscheidend ist stattdessen, wie die erworbenen „Daten“ weiterverarbeitet werden. Denn alle Informationen treffen in unserem Inneren auf ein ausgeklügeltes, hochkomplexes Verarbeitungssystem und werden dadurch erst richtig interessant (oder brisant). Unsere Fähigkeit zu lernen entscheidet schließlich, wie die Erlebnisse im Inneren abgespeichert werden und wie wir zukünftig mit ähnlichen Situationen umgehen werden.

Diese Prozesse lassen sich aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven (z.B. auch biologisch oder neurologisch) betrachten und ich möchte versuchen, eine der psychologischen Sichtweisen anschaulich darzustellen. Dazu verwende ich das Modell der zwei Wirklichkeiten. Dieses Konzept geht in Abwandlung zurück auf den Konstruktivismus. Eine Erkenntnistheorie, die annimmt, dass es keine objektive Wirklichkeit gibt, sondern jeder von uns seine individuelle Realität auf Grundlage der eigenen persönlichen Entwicklung konstruiert.

Das Konzept der zwei Wirklichkeiten – bildlich betrachtet

Stellen Sie sich also vor, jeder Mensch könnte bezüglich seiner Wahrnehmung und deren Verarbeitung in zwei Hälften unterteilt werden. Auf jeder der beiden Hälften befindet sich eine Art Flipperautomat, welcher die wahrgenommenen Informationen über verwobene Wege weitertransportiert und verarbeitet. Die individuelle Anlage des Flippers setzt sich aus bislang erlernten Informationen – also (Lern-)Erfahrungen zusammen.

Dem Wirklichkeitsmodell folgend haben wir, einfach beschrieben, also zwei differenzierte Verarbeitungsschleifen, wodurch die neu erworbenen Informationen katapultiert werden. Das Besondere hierbei ist, dass jeder Mensch ganz individuell gestaltete Flipperstrecken aufweist. Selbst bei eineiigen Zwillingen sind diese nicht zu 100% identisch.

Flipperstrecke 1 oder die erste Wirklichkeit

Auf der einen Seite – der ersten Wirklichkeit – werden all jene Informationen verarbeitet, die aus der Erfahrung heraus (oder weil nachweisbar) unstrittige Tatsachen sind, z.B. das heutige Datum, der eigene Name oder der Fakt, dass Sie einem bestimmten Beruf nachgehen. Diese Wahrnehmungsseite verarbeitet relativ reibungslos alle klaren und konkreten Informationen. Sie hat an sich wenig Potenzial, um Konflikte oder Schwierigkeiten „anzuzetteln“. Die Informationen laufen also ohne große Umwege geradlinig durchs System, nachdem Sie von unserem Gehirn als klare Fakten erkannt wurden. Die erste Wirklichkeit ist ein solider Partner, wenn es darum geht, nachweisbare Informationen abzuhandeln und im Wissensspeicher abzulegen.

Flipperstrecke 2 oder die zweite Wirklichkeit

Spannender wird es jetzt: die andere Seite – also die zweite Wirklichkeit – verarbeitet alle weiteren Informationen, die nach dem Ausfiltern der Fakten noch übrigbleiben. Auf dieser Seite ist unser Flipperautomat viel komplexer und sehr individuell konstruiert. Er setzt sich aus einer Art Raster, gebildet aus persönlichen Lernerfahrungen und den sich daraus ergebenden Werten, Bedürfnissen und Wünschen sowie unserer ganz eigenen Entwicklungsgeschichte zusammen – letztlich so individuell wie ein Fingerabdruck.

Diese von Person zu Person sehr individuell gewobene Flipperstrecke entscheidet, welchen Weg die Kugel nehmen wird – wie also die ankommenden Informationen eigeordnet und verstanden werden. Psychologen nennen diesen Vorgang „Wirklichkeitskonstruktion“. Denn die Einordnung der Information gibt schließlich vor, welche Wirklichkeit wir sehen, fühlen, denken und für welche Reaktionen wir uns entscheiden.

Zusammengefasst heißt es also, dass ein und dieselbe Information von jedem Menschen unterschiedlich verarbeitet und verstanden wird. Das erklärt letztlich, warum verschiedene Menschen in identischen Situationen äußerst unterschiedlich reagieren können. Und es erklärt auch, warum Menschen so häufig Schwierigkeiten haben, das Verhalten einer anderen Person zu verstehen oder auch nur zu akzeptieren. Das passiert nämlich dann, wenn Mensch A eine völlig andere Wirklichkeitskonstruktion hat als Mensch B, weil sein Raster entwicklungsbedingt so ganz anders angelegt ist.

Wir konstruieren unsere eigene Normalität

Jeder Mensch bildet auf Grund seiner eigenen Geschichte also seine individuelle Realität und auch Normalität. Alles, was hiervon abweicht, wirft unweigerlich Fragen, Unklarheiten sowie starke Emotionen (z.B. Wut) auf. Da diese Prozesse jedoch zu großen Teilen unbewusst ablaufen, ist uns dies meist nicht bewusst und so wundern wir uns über Unterschiede im Kontakt mit anderen Menschen und glauben, dass jeder ähnlich entscheiden und denken sollte, wie wir selbst. Oft ärgern wir uns über nicht nachvollziehbares Verhalten oder fühlen uns sogar gekränkt.

Ein Beispiel

Stellen wir uns zwei Kollegen vor, die zusammen im Team arbeiten. Während ein Kollege (Herr X) stets im Eiltempo agiert, vor sich hin ackert, seine Ergebnisse bis ins Detail perfektioniert und vor Stress kaum noch aufschauen kann, arbeitet der andere (Herr Y) langsam, lässt sich nicht stressen und gilt manchmal vielleicht sogar als bequem oder faul.

Diese Situation wird über kurz oder lang zu Konflikten führen. Hiervon höre ich während meiner Beratungen immer wieder. Meist ist es der als fleißig geltende Kollege, welcher sich Unterstützung sucht, da er erschöpft ist und ihn das scheinbar gleichgültige Verhalten des Teampartners auf die Palme bringt.

Was ist hier also los?

Beide Herren verarbeiten im Rahmen der ersten Wirklichkeit relativ identisch die unstrittigen Fakten: Name des Arbeitgebers, Arbeitszeitbeginn, Länge der Pause und Vieles mehr. Gleichzeitig wird aber auch die zweite Seite der Wahrnehmung bei beiden Kollegen aktiviert und entscheidet letztlich, wie die Zusammenarbeit verlaufen wird:

Wenn Herr X an seinem Arbeitsplatz eintrifft, wird automatisch sein persönliches Bewertungs- und Entscheidungsraster in Gang gesetzt. Hier sind Zuverlässigkeit, Pflichtbewusstsein und Fleiß ganz großgeschrieben. Es ist ihm wichtig, ein gutes Bild bei Vorgesetzten sowie Kollegen zu hinterlassen und perfekte Ergebnisse zu erreichen. Er hat gelernt, dass er eine korrekte Fassade präsentieren sollte und Schwäche oder Krankheit nur gelten, wenn er den „Kopf bereits unter dem Arm“ trägt. Im Rahmen dieser Prägung wird Herr X jeder Aufgabe mit dem Investieren von sehr viel Energie begegnen und auch Mehrarbeit für selbstverständlich halten. Er wird große Kräfte aufwenden, sich oft gestresst fühlen, belastet sein und trotzdem nicht von seinem Anspruch ablassen können, weil er es in seiner Geschichte gelernt hat, dass dies seine Normalität ist. Er wird sich über jeden wundern und früher oder später ärgern, der eine andere Arbeitsmoral aufweist.

Herr Y hingegen ist so geprägt, dass Arbeit für ihn vor allem dem Gelderwerb dient und er wird darauf achten, genügend Zeit zur Erholung zu haben. Er wird Anstrengung so gut wie möglich aus dem Weg gehen und genau ausbalancieren, wie viel er an Kraft investieren muss, damit es gerade so ausreicht, um die Anforderungen des Arbeitsgebers zu erfüllen. Er wird jedoch nicht freiwillig mehr arbeiten, als er muss und er wird sehr genau darauf achten, dass er einen Großteil seiner Kraft für den Privatbereich aufspart. Herrn Ys zweite Wirklichkeit ist also so angelegt, dass ein niedriges bis mittleres Anstrengungsniveau für ihn Normalität bedeutet und Arbeit ein Mittel zum Zweck ist. Er wird sich über Herrn X wundern, ihn anstrengend finden und das Gefühl haben, er reiße alle Arbeiten an sich oder er „versaue“ die Norm. Außerdem kann er nicht nachvollziehen, was Herr X meint, wenn er ihm zum Beispiel vorwirft, er engagiere sich zu wenig.

Diese und ähnliche Situationen finde ich sehr häufig vor, wenn ich mit der Konfliktvermittlung in Teams beauftragt werde. Und immer steht die Frage im Raum: Wer hat Recht? Die Antwort lautet: Beide! Denn jeder hat im Rahmen seiner eigenen Realität gute Gründe, sich genau so zu verhalten, wie er es tut. Wenn beide dies akzeptieren könnten, gäbe es weniger Konflikte. Doch schwierig wird es immer dann, wenn wir glauben, dass der andere sich so verhalten muss, wie es in unserer Realität als richtig gilt.

Konfliktklärung fängt also immer mit dem Verständnis an, dass mein Gegenüber anders ist als ich – oft sogar sehr anders. Und, dass jeder gute Gründe für sein Verhalten hat, die sich mir nicht automatisch erschließen werden, es sei denn, ich frage nach.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen: Viel Freude beim anders sein und anders sein lassen!

Herzlichst Mareike Fährmann